Fun Fact: Das Disketten-Icon haben wir aus einem existierenden Rechtsinformationsportal kopiert.

Der Zugang zu Rechtsinformationen darf in 2020 nicht auf dem Stand der 90er bleiben!

Innerhalb des 12-wöchigen Tech4Germany Fellowship-Programms haben wir in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eine API, ein MVP und einen Clickdummy entwickelt, um perspektivisch das aktuelle Portal Gesetze-im-Internet.de zu ersetzen. In diesem Artikel erläutere ich die Herausforderung und die konkreten Projektergebnisse meines Fellowships im Sommer 2020. Tiefere Eindrücke zur Zusammenarbeit und allgemeinere Erfahrungen zum Fellowship-Programm beschreibe ich im Artikel: Mit Tech4Germany Dienstleistungen gestalten, die besser für alle funktionieren.

José Ernesto Rodríguez

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Die Herausforderung

Gesetze sind ein Grundbaustein unserer Demokratie und regeln unser Zusammenleben. Unser Ziel war es, den Zugang zu Rechtsinformationen zu verbessern, und zwar für alle Bürger:innen und Bürger. Aktuell stellt der Bund alle aktuellen Bundesgesetze und Verordnungen auf dem Portal Gesetze-im-Internet.de zur Verfügung und hat monatlich mehr als 4 Millionen Klicks.

Auf Gesetze-im-Internet.de stellt der Bund alle aktuellen Gesetze und Verordnungen zur Verfügung.

Unsere Bewertung des aktuellen Portals

  1. Das aktuelle Portal ist nicht gut lesbar. Das liegt vor allem an der kleinen Schrift, den breiten Textzeilen und der fehlenden Optimierung für Smartphones. Außerdem werden die gesetzlichen Standards für Barrierefreiheit nicht erfüllt. Mehr zu Richtlinien für barrierefreie Webinhalte auf Wikipedia.
  2. Die Suche ist versteckt, bietet wenige bzw. sperrige Filtermöglichkeiten, und die Vorschau der Suchergebnisse ist nicht sehr aussagekräftig.
  3. Außerdem werden nicht alle Gesetzesdaten in gängigen Web-Formaten bereitgestellt. Das heißt, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft müssen die Daten erst umständlich herunterladen, formatieren und bereinigen.

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz plant daher, ein neues Rechtsinformationsportal zu erarbeiten. Das Tech4Germany Fellowship kam wie gerufen, um einen ersten Prototypen zu erarbeiten. In der ersten Phase ging es darum zu verstehen, welchen Mehrwert wir innerhalb der nächsten drei Monaten überhaupt liefern könnten.

Das Dreamteam von oben links nach unten rechts. Die Fellows: Niko Felger (Engineering), Greta Fest (Engineering), José Ernesto Rodríguez (Design) und Conrad Schlenkhoff (Product). Unsere Digitallots:innen aus dem BMJV: Beatrix Lindner, Sabine Schlüter, Alexander Schiff und Kai Rülke.

Unser Ziel: Den Entwicklungsprozess langfristig beschleunigen, aber auch schon heute mit den verfügbaren Mitteln Mehrwert schaffen, indem die Grundbedürfnisse befriedigt werden.

Wir haben nach jedem Interview die wichtigsten Erkenntnisse auf Post-its notiert und nach juristischem Vorwissen sortiert, um später bei der Synthese schnell Muster erkennen zu können.

Interviews mit Nutzer:innen

Neben der Analyse der vorhandenen quantitativen Daten, wie zum Beispiel Nutzungsstatistiken und Nutzungsumfrage, haben wir natürlich auch qualitative Interviews geführt. Über ein Aufruf auf Gesetze-im-Internet.de hatten sich im Vorfeld glücklicherweise über 400 Freiwillige gemeldet. So konnten wir bereits ab der ersten Woche Interviews mit Nutzer:innen führen. Wichtig dabei: das Nutzungsverhalten (mit Hilfe der Bildschirmfreigabe) beobachten und offene Fragen stellen, um die Bedürfnisse besser zu verstehen. Über die 3 Monate haben wir insgesamt mit 31 Nutzer:innen, 7 Expert:innen und weiteren relevanten Akteuren gesprochen, wie zum Beispiel der Open Knowledge Foundation, Open Legal Data, ris+ und Entscheidsuche.che.

Unsere 3 leitenden Nutzer:innenerkenntnisse und abgeleiteten Maßnahmen

Die Mehrheit der Nutzer:innen startet ihre Recherche bei Google und benötigt früher oder später den Gesetzestext.

1. Nutzer:innen haben wesentliche Gemeinsamkeiten bei der Vorgehensweise und den Bedürfnissen.

Die Mehrheit der Nutzer:innen startet ihre Recherche bei Google und benötigt früher oder später den Gesetzestext. Deshalb sollte im ersten Schritt ein Basisangebot für Gesetze geschaffen werden, das von Suchmaschinen gefunden wird. Hierfür haben wir eine erste funktionierende Version des Rechtsinformationsportals mit Grundfunktionen für Gesetze entwickelt. Auf weitere Inhalte wie z.B. Querverweise, Gesetzesentwürfe, Rechtsprechungen der obersten Gerichtshöfe des Bundes wurde daher in dieser Version verzichtet.

Das Spektrum der Nutzer:innen ist breit und ihre Bedürfnisse sind vielfältig.

2. Nutzer:innen und ihre Bedürfnisse sind heterogen.

Daher sollten die Daten für die Weiterverwendung zur Verfügung gestellt werden, damit Lücken von der Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft mit spezialisierten Angeboten geschlossen werden können. Um das zu erreichen, haben wir eine Datenschnittstelle für den Abruf der aktuellen Gesetze entwickelt.

Das Sicherheitsbedürfnis variiert je nach Charakter, Kontext und Lebenslage.

3. Nicht die juristische Vorbildung, sondern das Sicherheitsbedürfnis ist ausschlaggebend für das Rechercheverhalten.

Interesse korreliert nicht zwingend mit Expertise. Auch Menschen mit nur wenig juristischem Vorwissen möchten sich umfassend und verlässlich informieren. Daher sollten alle Rechtsinformationen kostenlos und nutzer:innenfreundlich zugänglich gemacht werden, um auch Personen ohne juristisches Vorwissen eine tiefgehende Recherche zu ermöglichen. Diese Vision haben wir mit Hilfe eines Clickdummys für die Fortführung des Projektes klickbar und testbar gemacht.

Screenshot: Ein Nutzer teilt seinen Bildschirm während des Interviews.

Weitere Erkenntnisse

  • Nutzer:innen mit wenig juristischem Vorwissen tendieren dazu, den Gesetzgebungsprozess nicht zu kennen, die Funktionsweise von Bundes- und Landesgesetz nicht zu verstehen und juristische Fachbegriffe nicht zu kennen.
  • Von den ~40 befragten Nutzer:innen hat nur eine Person die Suche von Gesetze-im-Internet.de benutzt. Alle anderen nutzten Google und zwar selbst dann, wenn sie Zugang zu spezialisierten und zahlungspflichtigen Recherche-Portalen wie Juris oder Beck haben.
  • Das wichtigste für Nutzer:innen ist der Gesetzestext. An zweiter Stelle stehen die Gerichtsentscheidungen.
  • Von den ~40 befragten Nutzer:innen kannte nur eine Person Rechtsprechung-im-Internet.de — das offizielle Portal zu Gerichtsentscheidungen.
  • Nutzer:innen möchten sichergehen, dass die Rechtsinformationen korrekt und auf dem aktuellsten Stand sind.
  • Um sich einen ersten Eindruck von einem Gesetz zu verschaffen, schauen Nutzer:innen in das Inhaltsverzeichnis.
  • Nutzer:innen kopieren Texte und erwarten, dass die Formatierung beim Einfügen in andere Programme berücksichtigt wird.
  • Es gibt überraschend viele Nutzer:innen aus nicht juristischen Fachgebieten, die sich dennoch mit den Rechtsinformationen auskennen müssen, wie zum Beispiel Architekt:innen und Tierärzt:innen.
  • Poweruser:innen erwarten eine intelligente Vervollständigung der Suchbegriffe, wenn zum Beispiel eine Gesetzesabkürzung oder ein §-Zeichen eingegeben wird.
  • Poweruser:innen durchsuchen sowohl das Inhaltsverzeichnis als auch den Gesetzestext nach Stichwörtern.
  • Poweruser:innen benutzen im Alltag regelmäßig Tastaturkürzel.
Die Icons haben wir aus einem existierenden Rechtsinformationsportalen kopiert.

Verfügbare Daten

Leider hat Gesetze-im-Internet.de keine offizielle Datenschnittstelle, auf der wir aufbauen konnten. Es gab jedoch die Möglichkeit, auf die Rechtsdaten von Open Legal Data aufzubauen. Wir konnten uns sogar mit dem Initiator Malte Ostendorff in Berlin persönlich austauschen. Diese freie und offene Plattform macht juristische Dokumente und Informationen für die Öffentlichkeit maschinenlesbar zugänglich. Wir haben uns letztendlich dagegen entschieden, weil nicht alle benötigten Metadaten in der Schnittstelle verfügbar waren und die Zukunft seines Freizeitprojektes ungewiss war. Des Weiteren war nicht klar, ob sein Server die Belastung (tägliche statische Generierung tausender Gesetzesseiten) aushalten würde. Stattdessen haben wir uns dazu entschieden, die XML-Dateien von Gesetze-im-Internet.de selber zu verarbeiten und über eine öffentliche Datenschnittstelle anderen bereitzustellen.

Unser Ziel: Mit der Kombination aus API, MVP und Clickdummy schon heute Mehrwert schaffen und den Entwicklungsprozess langfristig beschleunigen.

API — öffentliche Datenschnittstelle

Um Rechtsinformationen in zeitgemäßer Form einer breiten Öffentlichkeit auch maschinenlesbar zur Verfügung zu stellen, haben wir eine öffentliche, frei zugängliche Datenschnittstelle entwickelt. Über diese sind aktuell sämtliche auf Gesetze-im-Internet.de verfügbaren Gesetze im JSON-Format abrufbar und im Volltext durchsuchbar. Besondere Anforderungen können so von der Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft mit spezialisierten Angeboten ergänzt werden. Link zur technischen Dokumentation auf Github und zur Dokumentation zur Nutzung der API.

MVP — minimal verwendbares Produkt

Um Bürger:innen möglichst schnell eine nutzer:innenfreundliche Alternative zu Gesetze-im-Internet.de zu bieten, haben wir eine erste funktionnierende Alpha-Version entwickelt. Aufgrund der zeitlichen und datentechnischen Einschränkungen lag der Fokus der Entwicklung auf folgenden Punkten: Lesbarkeit, Orientierung und Barrierefreiheit.

Die Alpha-Version beinhaltet alle Bundesgesetze und wird täglich durch einen Webhook aktualisiert. Im Build-Schritt (aktuell auf AWS Amplify) werden die Gesetze von der API als Daten-Dump im JSON Format geladen und entpackt. Anschließend werden die statischen Seiten von einem “static site generator” (www.11ty.dev) generiert. Das hat den Vorteil, dass alle Inhalte für Suchmaschinen erfasst und bewertet und von einer Content Delivery Network ausgeliefert werden können. Man hätte für diese Generierung viele andere Tools verwenden können (www.staticgen.com) — wir haben uns aufgrund der guten Bewertungen und der einfachen und offenen Anwendung (es wird keine Template Sprache vorgegeben) für Eleventy entschieden. Das Frontend haben wir mithilfe des Design Systems von GOV.UK entwickelt. Im Einzelnen handelt es sich dabei um das Tab Modul und das übergreifende Seitenlayout. Die Suche funktioniert momentan nur mit JavaScript.

Clickdummy

Der Clickdummy basiert nicht auf der Datenschnittstelle und ist daher nicht voll funktionsfähig. Stattdessen zeigen wir die potentiellen Funktionen des zukünftigen Rechtsinformationsportal anhand eines konkreten Beispiels. Wir haben das Thema Urlaub und das dazugehörige Mindesturlaubsgesetz gewählt, damit sich möglichst viele Menschen in diesem Beispiel wiederfinden. Eine Infobox führt Nutzer:innen mit Hintergrundinfos durch den Clickdummy. Mit diesem konnten wir viele unserer Annahmen mit Nutzer:innen testen und das mögliche Zielbild für andere erfahrbar machen.

Der Clickdummy deutet zusätzliche Inhalte an wie z.B. Gerichtsentscheidungen, alte Versionen, Gesetzesentwürfe, Querverweise und den Gesetzgebungsprozess. Viele dieser Inhalte sind zwar aktuell nicht öffentlich verfügbar, sind für Nutzer:innen jedoch von großem Interesse. Weitere Funktionalitäten wie zum Beispiel ein PDF Download, Leichte Sprache und eine Übersetzung ins Englische könnten den Zugang zu Rechtsinformationen verbessern.

clickdummy.rechtsinformationsportal.de

Die Entwicklung vom Clickdummy in Webflow

Als Designer war ich Hauptverantwortlicher für den Clickdummy. Über die letzten Jahre habe ich verschiedenste Programme ausprobiert, um Prototypen zu erstellen. Für dieses Projekt habe ich mich jedoch für Webflow entschieden. Der große Vorteil: Der visuelle Website-Builder erlaubt es mir, die Webseite komplett selber zu gestalten und für verschiedene Bildschirmgrößen zu optimieren. Die Webseite bzw. der Clickdummy fühlte sich für die Tester:innen daher sehr echt an. Änderungen konnten wir sogar noch während der Tests vornehmen und mit zwei Klicks veröffentlichen. So konnten Conrad und ich mit dem Clikdummy Annahmen validieren; gleichzeitig konnte sich Niko auf das Backend und Greta auf das Frontend konzentrieren. Die Designübergabe an Greta erfolgte komplett über den Clickdummy. Wir mussten lediglich absprechen, welches Element als nächstes implementiert werden sollte.

Diese Agilitäts-Metapher ist von Robert Ebele — Change Agent im Digital Innovation Team beim BMI.

Wie geht es weiter?

Wie es konkret mit dem Projekt weiter geht, steht momentan noch nicht fest. Wir konnten die Digitallots:innen jedoch für einen nutzer:innenzentrierten und agileren Ansatz sensibilisieren. Wir sind guter Dinge, dass es kein U-Boot-Projekt wird, das nach Projektstart abtaucht und dessen Ergebnisse erst zu Projektende sichtbar und testbar sind. Stattdessen wird es hoffentlich lieber wie ein Delfin in kleineren Abständen auftauchen, Zwischenergebnisse mit Nutzer:innen testen und mit der Öffentlichkeit teilen. So wird es jederzeit möglich sein, den Kurs anzupassen.

Neugierig auf das Tech4Germany Fellowship?

Tiefere Eindrücke zur Zusammenarbeit und allgemeinere Erfahrungen zum Fellowship-Programm beschreibe ich im Artikel: Mit Tech4Germany Dienstleistungen gestalten, die besser für alle funktionieren.

Links: Zum Auftakt besprechen wir u.a. die BMJV-Pressemitteilung, um die Mission zu schärfen. Mitte: Beim wöchentlichen Roundtable geben wir uns unter Designer:innen gegenseitig Feedback. Rechts: Unser Offsite in Brandenburg.

Falls Du ausprobieren möchtest, wie es ist, für die und mit der Verwaltung zu arbeiten, ist das Tech4Germany Fellowship-Programm aktuell wohl die beste Option.

Unser Kick-Off Ende Juli im Umspannwerk in Kreuzberg.

Fellows & Digitallots:innen für 2021 gesucht

Auch für das aktuelle Jahr werden wieder Digital-Talente aus den Bereichen Tech, Product und Design und digitale Vorreiter:innen aus Bundesministerien und -behörden gesucht. Gemeinsam entwickeln sie innerhalb von 12 Wochen prototypisch nutzer:innenzentrierte Softwareprodukte für konkrete Herausforderungen der Verwaltung.

Tech4Germany Webseite →

Bewerbungsfrist für Fellows: Sonntag, 14. Februar →

Bewerbungsfrist für Digitallots:innen: Sonntag, 28. Februar →

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José Ernesto Rodríguez

UX/UI designer @DigitalService4Germany + Master student @Urbane_Zukunft. Previously @Tech4Germany @PwC @fuxblau @idpotsdam. Pronoun.is/he Born: 353.